Das neue Warschau: Metropole der polnischen und jiddischen Avantgarde (1918-1939)
Unsere Reise
Im Rahmen der Exkursion, die vom 24. bis 27. September 2024 stattfand, haben wir uns mit
Aspekten der im Seminar thematisierten Literatur und Alltagskultur der Avantgarde zwischen
den Weltkriegen befasst. Dazu besichtigten wir genossenschaftliche Wohnprojekte im
Stadtteil Żoliborz, die von – zumeist politisch links orientierten – Architekt:innen (z.B. Barbara
und Stanisław Brukalski) im Rahmen des „Neuen Wohnens“ in den 1920er und 30er Jahren
realisiert worden waren.
Ein Besuch in Polin, dem Museum für die Geschichte und Kultur der Juden in Polen, galt
nicht nur den Werken der jüdischen Avantgarde, sondern gab uns auch Einblick den
größeren Kontext der polnisch-jüdischen Beziehungen. Für die Zeitgeschichte – und
insbesondere für uns als Studierendengruppe aus Deutschland – ist es besonders wichtig,
den deutschen Anteil an dieser Beziehungsgeschichte zu sehen. Wir haben uns deshalb
auch mit der geteilten, gemeinsamen Geschichte im und nach dem Zweiten Weltkrieg
befasst.
Dazu diente der Besuch des Museums der Stadt Warschau sowie ein Treffen im
Jüdischen Historischen Institut (JHI). Letzteres verwahrt das Untergrundarchiv des
Warschauer Ghettos (Ringelblum-Archiv), aus dem die Dauerausstellung eindrückliche
Exponate zeigt. Ein Besuch im Archiv des JHI gab uns darüber hinaus die Möglichkeit,
Artefakte der Zwischenkriegszeit zu sehen und machte, einmal mehr, die sprachliche Vielfalt
der jüdisch-polnischen Geschichte deutlich. Über die Schwierigkeiten im Umgang mit dieser
Geschichte konnte wir uns bei einer Führung durch die Denkmal-Landschaft auf dem
Gelände des ehemaligen Ghettos überzeugen: Neben dem minimalistischen ersten
Ghettokämpfer-Denkmal und dem durch Willy Brandts Kniefall bekanntesten finden sich
zahlreiche kleinere Gedenksteine und -tafeln, die den polnischen Anteil an dieser
Kriegsgeschichte akzentuieren – allerdings durch ein nahezu gänzlich positives Narrativ,
unter Ausblendung von Fragen des Antisemitismus. Ein Ziel des Seminars wie der
Exkursion, Studierende für die Komplexität interethnischer und interner Verhältnisse zu sensibilisieren, dürfte wenigstens an dieser Stelle erreicht worden sein.
Die Exkursion schloss mit einem Besuch des jüdischen Friedhofs ab, auf dem auch noch Denkmäler und Gedenktafeln zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust eine wichtige Rolle spielten. Hier sahen wir Beispiele für eine avantgardistische Grabmalkunst der Zwischenkriegszeit, unter denen die Arbeiten des in Treblinka umgekommenen Abraham Ostrzega herausragen.
Prof. Dr. Marion Aptroot
Dr. Ute Caumanns
Das Seminar
Als ein polnischer Staat nach 123 Jahren der Nichtexistenz 1918 entstand, bedeutete dies in
vieler Hinsicht eine Zäsur: Nicht nur waren seine Grenzen von Anfang an umstritten, auch
wirtschaftlich und sozial trat der neue Vielvölkerstaat das Erbe der Teilungszeit an. Was
hinter militärischen und politischen Konflikten, autoritären Strukturen und einem virulenten
Antisemitismus oft in den Hintergrund rückt, sind die bedeutenden gesellschaftlichen
Modernisierungen und die vielfältigen Formen kultureller Mobilisierung. Grundlegend dazu
war der mstand, dass zum ersten Mal der jüdischen Bevölkerung gleiche Rechte
zugestanden wurden. Für Sozialreformer wie für Kulturschaffende stieß die Zäsur des
Weltkriegs und der neuen Staatlichkeit ein Fenster auf und die Metropole Warschau, die jetzt
wieder Hauptstadt sein durfte, wurde zum Anziehungspunkt für neue Ideen und
insbesondere einer Avantgarde-Kultur.
“Varshe” war zugleich die größte jüdische Gemeinde Europas und damit auch ein Zentrum jiddisch-sprachiger Kultur. Kulturschaffende in Polen, ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Herkunft, konnten sich als Teil einer internationalen Avantgarde-Bewegung verstehen, unabhängig davon, ob sie sich in multiethnischen Gruppen organisierten oder in Gruppen, die historisch-kulturell bestimmt
waren. Die der Exkursion vorausgegangene Übung hat sich exemplarisch mit Akteuren
(bildende Künstler:innen, Schriftsteller:innen, Architekt:innen), deren Ideen und Werken befasst. Dabei war auch von Interesse, wie sie sich in und zwischen Gruppen bewegten.