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Mittelalter im Film (Praxisseminar)


Mittelalter im Film – Wahrheiten im Film

Mit den Studierenden durchleuchten wir das Drama „The Last Duel“ (2021) und die Fernsehdoku „Die Frauen des Bauernkriegs“ – von der Quelle zum Drehbuch zum Diskurs

 

Theo Schley, 22.10.2025

 

In Film und Fernsehen gehören historische Stoffe nach wie vor zu den beliebtesten. Besonders die Faszination für das Mittelalter ist ungebrochen. Für die Zuschauer vermischen sich oft Ansprüche an Unterhaltung und Bildung: Viele Menschen lässt ihr historischer Wissensdurst zuerst Mediatheken und Videoplattformen wie Youtube auf entsprechende Filme und Dokus abgrasen – noch vor dem Griff zum Buch. Die Historikerzunft betrachtet historische Filme mit anderen Augen: Als kommerzielle und Unterhaltungswerke stehen Kinofilme wie Fernsehdokus immer in einem Spannungsverhältnis zum Anspruch an historische Wahrheit, selbst wenn ihre Macher diesen ehrlich ins Werk tragen. Fernsehdokus und viel mehr noch Kinofilme sind keine Vorlesungen. Kinofilme gehören als Kunstwerke ins Reich der Kreativität und Fiktion, von der auch Fernsehdokus nicht frei sein können. Trotzdem sind beide Genres in der Regel um ein historisches Fundament bemüht – schon um die Erwartungshaltungen des Publikums an einen „Geschichtsfilm“ zu erfüllen. Natürlich können sich auch die besten historischen Fernsehdokus, wie jede Dokumentation, der „vormedialen Wirklichkeit“ (Knut Hickethier) nur ansatzweise nähern: Als Erzählung über die Vergangenheit stößt eine Doku schnell an die in der Quellenlage begründeten Grenzen historischer Erkenntnisfähigkeit, an die Begrenzungen durch die Forschungs- und Erzähltradition, der sie verhaftet bleibt, aber auch an ihre eigenen medialen Grenzen: Das Medium Bewegtbild ist unerbittlich. Es erzwingt Eindeutigkeit, erlaubt keinen „Rückzug“ in den Diskurs. Für Historiker*innen ungewohnt! Eine Doku richtet sich an ein breites Publikum und will nicht nur von Fachleuten verstanden werden. Komplexe Sachverhalte bricht sie auf wenige Sätze herunter (eine Kunst für sich!). Und schließlich soll und möchte selbst eine mit staatlichem Bildungsauftrag produzierte Doku unterhalten. Kinofilme und Dokus wollen Neues erzählen, haben eine Erzählabsicht, müssen aber, um angenommen zu werden, im Rahmen der historischen Wahrheit bleiben – oder zumindest dessen, was das Zielpublikum aufgrund seines historischen Breitenwissens für anschlussfähig und plausibel hält. Dies ist der Moment einer öffentlichen Neuerzählung und Neuverhandlung von Geschichte – und hier können Historiker*innen ansetzen. Kinofilme wie Fernsehdokus sind Werke ihrer Zeit und antworten auf aktuelle Fragen. Gleichzeitig basieren sie auf wissenschaftlichen Forschungsständen. Für den/die Historiker*in können sie daher beides sein: wichtige Multiplikatoren historischer Erkenntnis – und zugleich Quelle dafür, was Macher und Zuschauer zu ihrer Zeit bewegte.

Vor diesem Hintergrund analysierten wir, Theo Schley und Isabelle Dillenberger, mit Studierenden aus dem Bachelor- und Masterstudium in unserem Blockseminar „Mittelalter im Film – von der Quelle zum Drehbuch zum Diskurs“ vom 21. bis 24. Juli 2025 am Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte zwei neuere historische Filme: Das Drama „The Last Duel“ (2021) von Ridley Scott und die Fernsehdoku „Die Frauen des Bauernkriegs“ (2025, Yellow Table Media, Arte, MDR, SWR, ORF). Im Seminar erarbeiteten die Studierenden die jeweilige Quellenbasis und die Forschungsgeschichte beider Stoffe. Auf dieser Grundlage diskutierten wir die historischen und gesellschaftlichen Diskurse, die beide Filme eröffnen.

Obwohl unterschiedliche Genres, ähneln sich beide Filme: Beide gehen von realen Ereignissen aus – vom Bauernkrieg in Deutschland von 1525 hier, von einem Aufsehen erregenden Vergewaltigungsprozess mit anschließendem Gottesurteil im Frankreich des Jahres 1386 dort. Beide Erzählungen nähern sich den Ereignissen aus der weiblichen Perspektive. Beide reagieren auf aktuelle Ereignisse: Jener auf das Gedenkjahr 500 Jahre nach dem Bauernkrieg im Jahr 2025, dieser offenkundig auf die #MeToo-Bewegung.

Vor allem aber sind sich beide Produktionen in einem auffälligen Bemühen um historische Exaktheit und Reflexion nahe. Die Fernsehdoku macht die Konstruktion von Narrativen und Geschlechterrollen durch die Quellen sogar zum eigentlichen Gegenstand ihrer Erzählung. Die historische Beratung übernahmen im Fall des Scott-Films der Autor des dem Film zugrunde liegenden Sachbuchs, der Kalifornische Professor für Englische Literatur Eric Jager, sowie der französische Mediävist Lorris Chevalier. Für den Bauernkriegsfilm saß der Autor dieser Zeilen als Dokumentalist und Rechercheur selbst am Redaktionstisch – und konnte so den Studierenden die Entstehungsumstände der Doku erhellen. 

Ein erstaunlicher Befund, der nach einer Erklärung verlangt! Könnte es sein, dass infolge der #MeToo-Bewegung gerade Themen der Geschlechtergeschichte und der Gewalt gegen Frauen in besonderer Weise nach geprüften Beweisen und größtmöglicher Reflexion über die Position der Sprecher*innen verlangen? Denn offenbar löste #MeToo zwei Schockwellen aus, die sowohl die Öffentlichkeit als auch die Medienwelt der USA und Europas erschütterten: Jene über das Ausmaß des Machtmissbrauchs und der sie begünstigenden Strukturen; und jene über die Gewalt der schnellen öffentlichen Verurteilung und der rasanten Zerstörung des Leumunds der Beklagten, bevor Prozesse stattgefunden hatten. Infolge des sogenannten #MeToo-Effekts verloren weltweit hunderte hochrangige Machtträger ihre Posten aufgrund von Vorwürfen sexuellen Missbrauchs. Dies führte bald zu Forderungen nach Fakten vor Verurteilungen. Findet dies ein Echo in der historischen Akribie und im Bemühen beider Filme um Quellenkritik? 

Der Hollywoodfilm erweist sich als eine Versuchsanordnung, um die verschiedenen Aspekte von sexualisierter Gewalt zugrundeliegenden Machtstrukturen, aber auch der #MeToo-Debatte selbst zu problematisieren. Dabei verlässt er die mittelalterliche Welt nicht, sondern nutzt die Abhängigkeitsverhältnisse eines Fürstenhofes für ihre Erzählung. Wie im Film „Rashomon“ (1950) erzählt er die Vergewaltigung einer Frau aus drei Perspektiven: Der des Täters (des Knappen Jacques Le Gris), des Opfers (Marguerite de Carrouges) und ihres Mannes (des Ritters Jean de Carrouges). Letzterer, so zeigen es die Quellen, war erst ein Freund und Alliierter, später ein Rivale Le Gris, sah sich jedoch als Opfer einer sich verschiebenden Gunsthierarchie am Hofe des Grafen von Alençon zugunsten Le Gris. War der Vorwurf der Vergewaltigung also bloß eine Verleumdung und Intrige – oder die Vergewaltigung der Gipfel eines Machtspiels bei Hofe? Oder war, wie im Film der Beklagte behauptet, alles einvernehmlich und Marguerites Abwehr lediglich erotische Konvention? Gegenüber der Macht des Grafen greift der Vasall im Film – und wohl auch in der Realität – zum Mittel größtmöglicher Öffentlichkeit, um das Verbrechen seiner Unterdrückung durch den Täter und seinen Herrn zu entreißen. Die Prozessakten legen die Verhandlungsstrategien beider Seiten offen: Da Aussage gegen Aussage stand und weil aufgrund der Abhängigkeitsverhältnisse den (erfolterten) Zeugenaussagen nicht zu trauen war, rückten beide Seiten den Leumund ihrer selbst und ihres Gegners ins Zentrum der Argumentation. In dieser Lage sei das schwerwiegendste Argument gewesen, resümierte der Anwalt des Beklagten, Jean Le Coq, später, dass Marguerite ihre Aussage aufrechterhielt, trotz Todesdrohung wegen falscher Anklage. Die Uneindeutigkeit des Falls polarisierte offenbar die politische Öffentlichkeit derart, dass der König Carrouges’ Forderung stattgab und ein letztes Mal ein Gottesurteil befahl (diese widerstrebten der königlichen Justiz wegen ihrer Zweifelhaftigkeit). Sein Ziel mag darin bestanden haben, den Prozess zu einem schnellen Ende zu bringen, den Ausbruch einer Fehde unter den Rittern an der normannischen Militärgrenze zu verhindern und die Rechtsautorität des Parlement zu sichern. 

Historiker sind keine Kriminalbeamten und der Fall galt auch nach dem Tod Le Gris nicht als geklärt. In die Geschichtsschreibung der Aufklärung (Encyclopédie) ging er ein als Paradebeispiel für die Irrationalität mittelalterlicher Rechtspraxis. Erst Eric Jager und Scotts Film ergreifen eindeutig Partei. Offenbar wollten Ridley Scott und die Autoren Matt Damon, Ben Affleck und Nicole Holofcener den „Fernen Spiegel“ (Barbara Tuchmann, 1978) des Mittelalters auf die Machtfragen unserer Zeit wenden. Ihr Ziel war vielleicht nicht zuletzt eine Katharsis der Erschütterungen, die der #MeToo-Effekt in ihrer eigenen Zunft auslöste. Aber beide Filme „reimen“ sich darin, dass sie anhand historischer Stoffe Wahrheit als stets neu konstruiert und verhandelt darstellen, mit all seinen gesellschaftlichen, politischen und juristischen Folgen.

Als Abschlussprüfung sollten die Studierenden als angehende Historiker*innen ausgehend von ihrem im Seminar angeeigneten Wissen Stellung zu den Werken beziehen – welche Diskurse eröffnen sie? Wie sind sie in der Rezeptions- bzw. Vereinnahmungsgeschichte des Bauernkriegs und des Duells von 1386 zu verorten? Wo muss der Fachmann/die Fachfrau Einspruch erheben? Und warum erzählen sie von den letztlich uneindeutig überlieferten Sachverhalten, wie sie es tun?

Die folgenden drei Filmkritiken von Studierenden stehen als besonders gelungen pars pro toto für ein diskussionsreiches und spannendes Seminar.