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Vom (Be-)Nutzen der Bücher. Praktiken des Buchgebrauchs in der Frühen Neuzeit

Leitfragen

  1. Welche Erkenntnisse bietet die Beschäftigung mit Büchern für die allgemeine Problematik eines ‚material turns‘ in der Geschichtswissenschaft?
  2. Lassen sich Bücher wie andere Artefakte als Alltagsgegenstände konzeptionieren oder muss ihnen ein herausgehobener Status zugewiesen werden?
  3. Wie hoch ist der Einfluss der materiellen Beschaffenheit eines Buchs auf die Textrezeption und inwieweit lässt er sich in historischer Perspektive rekonstruieren?

Wissenschaftliche Zielsetzung

Als Michel de Montaigne 1580 seine Essais veröffentlichte, befürchtete er, seine Schriften könnten, anstatt gelesen zu werden, den Damen der Gesellschaft als bloße Einrichtungsgegenstände ihrer Wohnstuben dienen. Bücher nicht zu lesen, sondern nur dekorativ auszulegen, scheint also schon in der Frühen Neuzeit eine gängige Praxis gewesen zu sein, und Montaigne weist uns durch seine Bemerkung auf einen Umgang mit Büchern hin, der sich nicht am Inhalt, sondern an der äußeren Gestalt, nicht am geistigen Schatz, sondern am materiellen Wert des Buches orientierte. 

Seit jeher stellen gedruckte und geschriebene Bücher Objekte dar, die mehr sind als der in ihnen zu lesende Text. Sie sind unterschiedlich gestaltet und werden unterschiedlich gehandhabt; sie zirkulieren zwischen Menschen und Institutionen und sind auf vielfältige Weise in soziale Interaktionen eingebunden. Die materielle Kulturforschung plädiert dafür, diese Formen, Verwendungen und Bewegungsbahnen der Bücher nachzuvollziehen, um Einblick in ihr „social life“ (Arjun Appadurai) zu erhalten.

Mit der Metapher vom ‚sozialen Leben der Dinge‘ wird ein Perspektivwechsel eingefordert, der konsequent die materielle Bedingtheit von Praktiken und Diskursen berücksichtigt. Eine noch radikalere Änderung der Sichtweise verlangt Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, welcher eine Neubewertung der Mensch-Ding-Beziehungen zugrunde liegt. Latour begreift Menschen und Dinge gleichermaßen als Aktanten in einem Handlungsgeflecht und geht von einem den Dingen inhärenten ‚Script‘ aus, das Handlungen evoziert bzw. provoziert.

Im Fall der Bücher leitet sich von diesen methodisch-theoretischen Vorstößen beispielsweise ab, die Möglichkeiten der Textrezeption an die Materialität des Buches zurückzubinden und nach dem materiellen ‚Script‘ der Bücher zu fragen. Es gilt etwa, die wechselnde Funktion und Bedeutung von Büchern als Gaben, Geschenken und Habseligkeiten zu verstehen oder alternative Verwendungsweisen von Büchern als Dekorationsstücke, „Nothelfer“ (Etienne Francois) und Souvenirs aufzuspüren.

Die historische Forschung ist solchen Ansätzen bislang nur vereinzelt gefolgt. Bücher interessierten und interessieren hauptsächlich als Träger von Texten, deren Analyse nach wie vor im Mittelpunkt historischen Arbeitens steht. Wie und unter welchen Umständen die historischen Akteure diese Texte aufnahmen und wie und wozu sie Bücher (be-)nutzen, wurde bislang wenig thematisiert. Der geplante Workshop zu den Praktiken des frühneuzeitlichen Buchgebrauchs will diese Lücke schließen.

Auf die Fokussierung auf Texte und die damit einhergehende Vernachlässigung des Materiellen ist es zurückzuführen, dass Bücher in Forschungen zur Geschichte der Alltagsgegenstände unberücksichtigt blieben. So nahm Daniel Roche Bücher gar nicht erst in seine wegweisende Histoire des choses banales (1999) auf. Gegen diese Ausgrenzung ließe sich argumentieren, dass das gedruckte Buch geradezu einen Prototyp des seriell erzeugten und normierten Massenprodukts darstellt und sich deshalb ganz besonders gut für eine konsum- und objektgeschichtliche Herangehensweise eignet.

Vor allem aber haben Bücher im Vergleich zu anderen Alltagsgegenständen wie etwa Kleidung und Hausrat den Vorteil, dass sie sich in großen Mengen erhalten haben. Zudem tragen sie in Form ihres Einbands, in Widmungen, Randbemerkungen und Unterstreichungen Spuren des Gebrauchs und der Aneignung in sich, die vergleichsweise leicht zu entschlüsseln sind: Eine Widmung lässt sich leichter interpretieren als die Spuren eines Essbestecks auf einem Zinnteller.

Freilich war die Überlieferung der Bücher in aller Regel der Überzeugung geschuldet, dass nicht ihre materielle Hülle, sondern ihr Inhalt erhaltungswürdig sei. Gerade dies macht jedoch den hohen Quellenwert der in und an den Büchern vorhandenen, unabsichtlich und achtlos überlieferten (Be-)Nutzungsspuren aus. Der Workshop setzt sich zum Ziel, diesen Spuren zu folgen.

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