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Kapitel 1: Taschkent I

Die ersten nächtlichen Stunden in Usbekistan brachen bereits das orientalistische Bild des Sicherheitsvideos. Wir wurden von mehreren Kleinbussen abgeholt, die uns durch die Stadt zu unserem Hotel fuhren. Vor uns erstreckten sich breite Boulevards, gesäumt von hohen Glasbauten, wir fuhren an einigen internationalen Schulen und an mehreren großen Bürogebäuden asiatischer Unternehmen wie Huawei und Samsung vorbei. Tashkent City, so sagte unser Stadtführer, wird dieser Stadtteil genannt.

Taschkent ist die Hauptstadt Usbekistans, die größte Stadt Zentralasiens und Zentrum für den Baumwollhandel. Unter sowjetischer Herrschaft sollte die Stadt durch den Bau eines neuen, sowjetischen Teils zu einem Vorzeigemodell für das sozialistische Zentralasien werden, das den vermeintlichen Fortschritt der einheimischen Gesellschaft durch den Sozialismus darstellen sollte. Dieses Projekt scheiterte mitunter, weil das Verständnis für die multiethnische Zusammensetzung der Bevölkerung und ihrer Bedürfnisse fehlte und verstärkte stattdessen die lokale Segregation. Am 26. April 1966 kam es zu einem historischen Erdbeben, das große Teile der Stadt zerstörte und bei dem ca. 300.000 Taschkenter:innen ihren Wohnort verloren. 

Diese Erfahrung prägt noch heute die Stadt. Jedes Gebäude, das wir betraten, wurde uns damit vorgestellt, ob es das Erdbeben überstanden hatte oder nicht. Hierbei wurde auch deutlich, dass sich die Stadt noch immer architektonisch in mehrere Teile aufsplitten lässt. Neben den islamischen und traditionellen Monumenten der Altstadt besuchten wir an anderen Stellen Gebäude, die in einem russischen Kolonialstil oder einem klaren sowjetischen Architekturstil erbaut wurden. Einige öffentliche Plätze und U-Bahn-Stationen der ersten Metro Zentralasiens wurden nach der Unabhängigkeit Usbekistans umbenannt und ehemalige sowjetische Denkmäler durch nationale ersetzt. Sowjetisch-usbekische Ehrungen blieben allerdings unverändert. Darunter zum Beispiel die Metrostation Alisher Navoi, die nach dem gleichnamigen Dichter (1441–1501) benannt wurde, welcher als regionaler Held gefeiert wird, dessen Name und Werke aber auch als Teil der Propaganda zur Prägung des sowjetischen Zentralasiens verwendet wurden.

Bei einem Gang über einen der großen Basare der Stadt konnten wir den Vorbereitungen für das Navruz Fest zuschauen und Sumalak probieren – ein Gericht nur aus Weizen, das für 24 Stunden gekocht werden muss und traditionell zu diesem Frühlingsfest gegessen wird. An unserem dritten Tag in Usbekistan sollten wir schließlich unsere Rolle als reine Beobachter:innen verlassen. Eine erste Gelegenheit dazu stellte das Treffen mit dem Goethe- Institut in Taschkent dar, wo wir uns mit Deutschlernenden aus verschiedenen Taschkenter Schulen austauschen konnten.

Noch am gleichen Tag besuchten wir das 139 Documentary Center, in dem wir uns die Vorträge von drei Historiker:innen anhörten: Dr. Oybek Makhmudov sprach über die Pamir- Region in seinem Vortrag “Die Kolonie ohne Kolonisierung? Besonderheiten der Politik des Russischen Imperiums im Pamir (Ende 19. und Anfang 20. Jahrhundert)”. E’zozkhon Kochkarova stellte ihre Forschungen in dem Vortrag “The formation of a Soviet educational system in Uzbekistan” vor und Anna Pronina gab uns einen Einblick in die Architekturgeschichte der Region in “In search of the national style of Soviet architecture in Uzbekistan, 1930s-1950s“.

Wie die Arbeit von historisch forschenden Personen in der Praxis aussehen kann, zeigte uns ein Besuch des Nationalarchivs für Kinofotofonodokumente der Republik Usbekistan. Hier wurden wir vom Direktor des Archivs Alidzhan Makhkamov und seinen Mitarbeiter:innen nicht nur mit überwältigender Gastfreundschaft empfangen, uns wurde auch das gesamte Archiv mit all seinen Teilbereichen vorgestellt. Das Team des Archivs zeigte uns sowohl die Lagerräume als auch die Rechercheplätze. Man sagte uns, dass insgesamt 80 % des Archivbestandes digitalisiert seien und zeigte uns, dass die Mitarbeiter:innen des Archivs die Restauration und die Instandhaltung ihrer Archivalien selbst durchführten. Abgerundet wurde unser Besuch durch ein Reenactment von usbekischen Traditionen, wie einer traditionellen Hochzeit, einem Wiegenlied und einem gemeinsamen Tanz. Anschließend wurden uns zwei der dort archivierten Dokumentarfilme über das Gūr-e Amīr Mausoleum in Samarkand vorgespielt, das eine unserer nächsten Reisestationen darstellte.

Tamara Mansaray

Islam in Usbekistan

fundamentalistisch, liberal, staatlich gelenkt?

Eines der vielen Themen, die uns bei Antritt der Reise bewegten, war die Frage wie und in welchem Umfang der Islam in Usbekistan heute praktiziert wird. Gleich die erste Führung durch Taschkent streifte diese Frage und trug ein wenig zur Erhellung und Vertiefung des Themas bei.

Wir besuchten eines der wichtigsten islamischen Zentren in Zentralasien, den Hazrati-Imam- Komplex. Das Ensemble verdankt seinen Namen einem der ersten und meistverehrten Imame von Taschkent. Über seinem Grab wurde im 16. Jahrhundert ein Mausoleum erbaut. Durch seinen Einfluss konvertierte ein Großteil der Bevölkerung zum Islam, heute sind etwa 90% der usbekischen Bevölkerung Muslime. Jegliche religiöse Aktivität wird nach dem Religionsgesetz von 1998 staatlich gelenkt. Mels, unser Stadtführer, erklärte uns, dass die Inhalte der Predigten der Freitagsgebete vom Präsidenten abgesegnet werden müssen und landesweit gleich sind. Persönliche Freiheiten bei der Religionsausübung und Bekleidung werden toleriert, nicht aber missionarische Aktivitäten oder fundamentalistische Strömungen.

Zum Hazrati-Imam-Komplex zählt auch die 2007 neu errichtete Hazrati-Imam Moschee. Im Vorraum befinden sich 20 wunderschön geschnitzte Säulen aus Sandelholz, türkisfarbene Kuppeln mit Blattgoldverzierungen sowie ein großer Gebetssaal mit prächtiger Ausstattung. Wir besuchten die ehemalige Koranschule aus dem 16. Jahrhundert und auch die Muji- Mubarak-Medrese, in der ein besonderes Kleinod ausgestellt ist, nämlich der berühmte Osman-Koran. Von Mels erfuhren wir während der ausführlichen Besichtigung Grundsätzliches zum Islam, den Regeln und Gebräuchen der Gläubigen und zum Koran. Im Koran sind die Worte des Propheten niedergeschrieben, der Osman-Koran gehört zu den ältesten erhaltenen Abschriften der Welt und ist deshalb sehr kostbar. Der Legende nach hatte Amir Timur ihn auf einem seiner Kriegszüge in seinen Besitz gebracht und mit nach Samarkand genommen. Auf Umwegen u.a. über die zaristische Bibliothek in St. Petersburg gelangte er schließlich nach der Oktoberrevolution nach Taschkent.

Es war ein besonderes Highlight des ersten Taschkentvormittags, von der Existenz dieser besonderen Reliquie zu erfahren und sie aus der Nähe anzusehen.

Birgit Sandra & Margret Lipek

feilschen in einer millionenstadt:

der Besuch des Chorsu-Basars in Taschkent

Bereits während unseres ersten Tages in Usbekistan hatten wir die Möglichkeit den berühmten Chorsu-Basar im Zentrum der Altstadt von Taschkent zu besuchen. Von unserem charmanten, lokalen Guide geführt, betraten wir am späten Nachmittag den riesigen, türkisblauen Kuppelbau, unter dem sich der historische Markt Taschkents befindet.

Dem ‚Lexikon des Islam in deutscher Sprache‘ zufolge bedeutet der Name ‚Chorsu‘ so viel wie ‚vier Wege‘. Damit wird betont, dass der historische Handelsplatz sich an der Kreuzung von vier Einkaufsstraßen der alten Seidenstraße befand. Allein deswegen galt dieser Ort über Jahrhunderte hinweg als ein wichtiger Handelspunkt, an dem diverse Güter verkauft und gegeneinander ausgetauscht wurden.

Auch heute, im Zeitalter der Supermärkte, spürt man beim Betreten des Basars, dass er seine ursprüngliche Bedeutung beibehalten und einen Teil des Geistes der alten Seidenstraße konserviert hat. Nicht nur ist der Basar zusätzlich zu den Supermärkten ein wichtiger Einkaufsplatz für viele Taschkenter, sondern er lockt auch viele Tourist:innen an. Und das nicht ohne Grund: Zum einen begeistern die überfüllten Marktstände mit ihrer bunten Warenvielfalt, zum anderen darf man seine Verhandlungsfähigkeiten bei der im Westeuropa fast ausgestorbenen aber durchaus spannenden Praxis des Feilschens ausprobieren.

Obwohl der Basar einem zunächst riesig vorkommt, ist die Orientierung dort nicht schwierig: Der Markt ist nämlich in Bereiche gegliedert, in denen eine Vielzahl an unterschiedlichsten Waren verkauft werden. Während man beispielweise auf dem Erdgeschoss des Kuppelbaus Milch- und Fleischprodukte findet, kann man außerhalb des Gebäudes Obst, Gemüse sowie Keramik- und Textilwaren erwerben. Bei mir persönlich hinterließ aber die erste Etage des Kuppelbaus den größten Eindruck. Die dort mit Nachdruck angebotene Vielfalt an Nüssen, getrockneten Früchten, Gewürzen, dem Tee und verschiedenen Sorten der zentralasiatischen Süßspeise ‚Halwa‘ erschien für mich als etwas genuin Usbekisches – etwas, was nirgendwo anders auf der Welt zu finden ist. Allein deswegen lohnte sich für mich der Besuch dieses Basars, der zudem von beeindruckender Architektur umrahmt ist.

Jokubas Gaucius

usbek:innen kennenlernen

Im Austausch mit Deutschlernenden am Goethe Institut

Wir waren alle überrascht, wie groß die Gemeinschaft der Deutschlernenden in Usbekistan ist und wie früh viele von ihnen beginnen. Das Taschkenter Goethe-Institut arbeitet mit mehreren Schulen zusammen. Der Unterricht ist in das Curriculum eingebunden und führt häufig auch zu einem Austauschaufenthalt in Deutschland. Wir wurden am Institut sehr herzlich mit einigen usbekischen Snacks und Getränken empfangen. Um die Stimmung aufzulockern, haben wir ein Kennenlernspiel gespielt. Für das Treffen hatten wir zwei Vorträge vorbereitet. Friederike Aschhoff berichtete über das Leben in Düsseldorf und Franca Herms erklärte, wie ein Studium in Deutschland funktioniert. Die Schüler:innen stellten insbesondere viele Nachfragen zum Thema Studium, da sich viele vorstellen konnten, dafür nach Deutschland zu kommen. Bei einem Quiz über Usbekistan konnten wir unter Beweis stellen, wie gut das Seminar uns auf die Reise vorbereitet hat. Anschließend hatten wir ein wenig Zeit, uns in Kleingruppen zu unterhalten und auszutauschen. Der junge Mann, der mir gegenüber saß, stellte einige fachliche Fragen zum Thema Geschichte. Er wollte zum Beispiel wissen, welche Epoche wir als die brutalste empfanden oder wann und warum Historiographie begann. Mit seinen smarten Nachfragen brachte er uns teilweise ganz schön ins Schwitzen.
Weniger fachlich war mein Gespräch mit der jungen Frau neben ihm, die anfangs hauptsächlich zuhörte. Sie war zurückhaltender, trug an ihrer Jacke allerdings einen Button von einem bekannten Videospiel, das ich sofort erkannte. Schnell entbrannte zwischen uns ein angeregtes Gespräch über das Spiel und unsere Lieblingscharaktere. Viel zu schnell war unsere gemeinsame Zeit vorbei und die Schüler:innen mussten leider wieder zurück in den Unterricht.

Tamara Mansaray

zwischen kunstmuseum und klub:

Das 139 Documentary Center

Ein bisschen außerhalb des Stadtzentrums von Taschkent hängt ein unauffälliger schwarzer Rahmen an einem kargen Gebäude. Wenn man nicht wüsste, dass es ihn gibt, würde er unter all den umliegenden Cafés unbemerkt bleiben. Doch hinter der minimalen Fassade verbirgt sich eine konfrontative und revidierende Sicht auf die koloniale Geschichte Usbekistans, die sich in Form von Veranstaltungen, Ausstellungen und sogar einem kleinen Schallplattenladen sichtbar macht. Das 139 Documentary Center ist eine Multifunktions- Galerie mit mehreren interessanten Objekten aus der Alltagsgeschichte Usbekistans. Über eine Instagram-Seite informiert das Center über besondere Ereignisse oder Partys, aber auch außerhalb von besonderen Gelegenheiten ist es wert vorbeizuschauen. Eingerichtet mit Fotos von Baumwollarbeiter:innen, einer Cocktailbar und lokaler zeitgenössischer Kunst, bewegt man sich hier in einem Raum zwischen Kunstmuseum und soziokulturellem Klub.

Unser Besuch beinhaltete drei spannende Vorträge von Historiker:innen, die sich alle mit osteuropäischem Einfluss auf Usbekistan beschäftigen. Zwischen den Vorträgen konnte man sich mit den Mitarbeiter:innen unterhalten. Es war eine bereichernde Erfahrung sich mit Menschen aus einem anderen kulturellen Hintergrund über Musik auszutauschen. Hier besteht eine Atmosphäre von Akzeptanz und Neugier, und alle waren sehr gesprächig und zugänglich. Ein Mitarbeiter teilte mir seine musikalischen Idole mit, und mir wurde wieder bewusst wie viel man von der Welt nicht hört in seinem eigenen Kulturkreis. Glücklicherweise konnte ich direkt im Plattenladen des Zentrums einige neue Schätze kaufen und somit ein bisschen Geschichte im 12“ Format mit nach Hause nehmen. Möglichkeiten wie diese bieten wertvollen Nährstoff für eine neue Generation junger Usbek:innen, die sich mit ihrer Herkunft und Identität beschäftigen und mit anderen Eindrücken und Erfahrungen austauschen wollen. Die hier ausgestellten Bilder und Objekte aus dem sowjetischen Alltag, so unbedeutend sie manchmal erscheinen, bieten Möglichkeit zur Auseinandersetzung und Reflexion über das Erbe der UdSSR und deren Einfluss auf die Gegenwart.

Luca Brandenburger

Verantwortlichkeit: