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Theo Schley

Die Bürger und ihr König. Aufstiegschancen und Partizipation der Prager Stadteliten im Dienst Johanns des Blinden (1310-1346). Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades. Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, École des hautes études en sciences sociales Paris, 2023.

 

Die Dissertation untersucht die Beziehungen König Johanns von Luxemburg, genannt der Blinde (1296-1346, reg. ab 1311) zu den Bürgereliten der böhmischen Hauptstadt Prag. In der internationalen Luxemburger-Forschung wird die Herrschaftsgeschichte König Johanns seit dem Fall des Eisernen Vorhangs einer tiefgehenden Revision unterzogen. Insbesondere die seit dem Beginn der modernen Geschichtswissenschaft in Tschechien etablierte negative Bewertung des ersten Luxemburgers auf dem böhmischen Thron (etwa als „König Fremdling“) wird dabei zunehmend hinterfragt. In den Vordergrund des Forschungsinteresses rücken nunmehr die Herrschaftstechniken und Strategien, die es dem Luxemburger ermöglichten, seine Herrschaft trotz anfänglicher Schwierigkeiten in Böhmen zu errichten. Die Erforschung der Position, die die Eliten der Stadtbürger, insbesondere der Hauptstadt Prag, in Johanns Herrschaftssystem in Böhmen einnahmen, blieb dabei ein Desiderat. Bis heute gilt Johann als ein Stadtherr, der meistens abwesend und bestenfalls an den städtischen Geldzahlungen interessiert war. Bei genauer Betrachtung erweist sich dieses Bild jedoch einerseits als einer disparaten Quellenlage geschuldet, andererseits als eine nationalhistorisch beeinflusste Lesart, die letztlich bereits durch eine äußerst johann-kritische zeitgenössische Chronistik (etwa der Königsaaler Chronik) sowie der „gelenkten Erinnerung“ in der Hofhistoriographie seines berühmten und in Tschechien bis heute verehrten Sohnes, Karls IV., geschuldet ist. Andererseits hat in der tschechischen „Verfassungs“geschichte die Auffassung der Stadtbürger als eigenständige politische Akteure in der Zeit vor dem Hussitismus keine Tradition. Vielmehr hätten die Prager und Kuttenberger Bürger, nach ihrem erfolgreichen Engagement für die Herrschaftsübernahme der Luxemburger alle weiteren politischen Ambitionen begraben, nicht zuletzt aufgrund der Politik König Johanns, die, im Frieden von Domažlice 1318, auf eine Annäherung an den Landesadel hinauslief.

 

Die Studie geht von den Überlegungen Hans-Joachim Heinigs und Peter Moraws zur strukturellen Interdependenz zwischen (Reichs-)Städten, Bürgern und Königtum und den „quasi-staatlichen Funktionen“, die diese für die effektive Herrschaftsausübung des Königs bereitstellten, aus. Um die Bürger als politische Akteure zu erfassen, wird die Perspektive umgedreht: Es wird konsequent der Blickpunkt der Bürger eingenommen, um auf diese Weise ihre Interessen und Handlungsspielräume zu nachzuzeichnen. Insbesondere der Wunsch nach sozialem Aufstieg und Chancen politischer Partizipation werden als grundlegende Interessen angenommen. Um die sozialen und politischen Dynamiken sowie Lernprozesse in den Blick nehmen zu können, geht die Studie prozessorientiert vor.

 

I) Strukturen der Stadtherrschaft

 

Die Stadt Prag, auch Altstadt genannt, entstand als königliche Gründung aus dem Suburbium der Prager Burg im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts im Kontext des hochmittelalterlichen Landesausbaus und der Periode der Städtegründung nach deutschem Recht in Böhmen und Mähren. Aufgrund der starken rechtlichen und gerichtlichen Abhängigkeit der Bürgergemeinde vom Königtum blieb die städtische Autonomie – verglichen mit den Reichsstädten – begrenzt. Im Kontext eines sich ausbildenden „Dualismus“ zwischen König und Adel im 13. Jahrhundert wuchs der Stadt als „Haupt“ (sedes et caput) des Königreichs eine merkliche politisches Gewicht zu, indem die Akklamation und Akzeptanz des Königs durch den populus Pragensis hohe symbolische Bedeutung bekam. Diese entsprach nicht zuletzt der Funktion Prags als Vorort der Städtelandschaft und Herz der böhmischen Wirtschaft. Deutlich wurde Prags politische Rolle spätestens nach dem Erlöschen der männlichen Linie der Přemysliden im Jahr 1306: Bei den nun anstehenden Königswahlen besaß Prag ein eigenes Stimmrecht und ihre Stimme wurde von den Thronparteien – Habsburger, Meinhardiner und Luxemburger – hart umkämpft. Die Unterstützung und Kontrolle der Hauptstadt besaß schließlich legitimierende Kraft für den König.

Die politische Polarisierung der Königswahlen erfasste daher auch die Prager Bürgerschlechter. Der maßgebliche „Spalt“ verlief zwischen zwei Familienverbänden, die sich um die Familien der Wolfram und Welfl gruppierten. Diese Verbände bildeten distinkte Submilieus innerhalb des Kreises der Führungsfamilien, die sich mit Blick auf ihre wirtschaftlichen Interessen, ihre Strategien der Generierung sozialen Kapitals, ihre Allianzen und selbst auf ihre Wohnorte unterschieden: Die Familien des „Egerer Milieus“ (Wolfram, Kornpuhl, von Eger, Rokzaner) waren im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts aus Eger und Südwestböhmen nach Prag immigriert und dominierten einen bedeutenden Teil des Fernhandels insbesondere aus dem Reich. Der Blick auf dieses Milieu von Fernhändlern offenbart die überregionalen Handels- und Informationsbezüge, in denen Prag spätestens seit Erschließung der Silbererzadern in Jíhlava (Iglau) und in Kutná Hora (Kuttenberg) stand. Seit Mitte des 13. Jahrhunderts intensivierte sich die Verflechtung der Fernhändlerfamilien mit ihren Partnerstädten im Reich auf der Tuch-Route nach Flandern, besonders in Regensburg, Nürnberg und Wien, die ihrerseits den Zwischenhandel mit böhmischen Edelmetall auf der Route nach Norditalien und an die Adria (Venedig) dominierten. Gegenüber den Familien des „Eger-Milieus“ der Fernhändler war die Vorrangstellung der Welfl und ihrer amici anders gelagert: Mehr als die Egerer erscheinen sie mit dem Metallgeschäft in Kuttenberg (Bergbau und Münzproduktion) verbunden. Ihre Familiengeschichte ist eng mit der Prager Stadtentwicklung verflochten, wo sie vermutlich an der Gründung der vormals eigenständigen Gallusstadt beteiligt waren, wo auch ihre Stammsitze und ihre Stammkirche lagen. Besonders auffällig sind die geistlichen Bindungen des Familienzweigs der Jacobi, die dieser mit Angehörigen des Königshauses einging. Sie bieten eine Erklärung für die unerschütterliche Loyalität der Welfl für Heinrich von Kärnten, der mit Königin Anna Přemyslovná verheiratet war, und wirkten langfristig, nach einem dramatischen Gunstverlust der Familie, als sozialer „Stabilisierungsanker“ für die Stellung der Familie.

 

II) Herrschaftsübernahme der Luxemburger und Bündnis mit den Egerer Familien

 

Die politische Polarisierung der Königswahlen von 1306 brachte diese „Doppelspitze“ der Bürgereliten gegeneinander auf, die wahrscheinlich auch aus Erwägungen der Loyalität gegenüber der stirps Premyslida und mit Blick auf Handelserleichterungen im Reich unter König Albrecht von Habsburg heraus Partei ergriffen. Die hier beginnende Spirale der Fehdegewalt destabilisierte die kurzen Königtümer Rudolfs von Habsburg und Heinrichs von Kärnten bis zum Sturz des Meinhardiners. Auch infolge eines vermutlich durch den luxemburgischen Mainzer Erzbischof Peter von Aspelt eingefädelten Bündnisses des neuen römischen Königs Heinrich VII. (seit 1308) mit den „Egerer“ Familien in Prag gelang der Herrschaftswechsel zugunsten der Luxemburg im Winter 1310.

Die Stabilisierung der Herrschaft des damals 14-jährigen Johann von Luxemburg gelang nicht zuletzt deshalb, weil die Luxemburger von Beginn an alle maßgeblichen Bürgergruppen, das heißt besonders die montani aus dem Bergbau- und Münzgeschäft und die Fernhändler in ihre Politik einbanden. Durch eine systematische Politik der Befriedung gelang die Durchbrechung der Spirale der Fehden unter den Bürgern und zwischen Bürgern und Adeligen. Die Egerer unterstützten die Luxemburger finanziell und logistisch. Entscheidend wurde die Loyalität der nunmehr Prag dominierenden Egerer Familien, als der König zwischen 1315 und 1318 in einen schweren Konflikt mit dem Adel geriet. Die Loyalität der Egerer, die Johann sogar militärisch unterstützten, hielt auch die übrigen böhmischen Städte bei der Stange, sodass der in Bedrängnis geratene König einen diplomatischen Ausgleich mit dem Adel finden konnte. Dieser bewirkte eine nachhaltige Machtverschiebung zugunsten des Adels, die einen Aufstand in Prag provozierte, in dessen Folge die Welfl in die Gunst des Königs zurückkehrten. Doch blieb das enge Bündnis zwischen König Johann und den nunmehr komplettierten Prager Familien unangetastet, auch wenn den Bürgern forthin der Aufstieg in Hofämter im Wesentlichen verwehrt blieb.

 

III) „Governance“: Stärkung lokaler Eliten gegen Loyalität

 

Als sich nach 1319 die Abwesenheiten, aber auch die Geldforderungen und Kriege König Johanns häuften, bildete sich ein modus operandi in seinen Beziehungen zur böhmischen Hauptstadt heraus, den man als „Governance“ bezeichnen könnte. Diese Governance war dadurch geprägt, dass Johann die lokalen Machtträger in Böhmen und in Prag stärkte und ihnen im Gegenzug für ihre Loyalität und die Bereitstellung politischer und sonstiger Ressourcen weitgehende Handlungsfreiheit in ihren inneren Angelegenheiten gewährte. Diese Strategie, die auch andernorts zu beobachten ist, sicherte ihm die Unterstützung der Fernhändler bei einigen seiner Expansionsprojekte etwa im Egerland und in Schlesien sowie ihre politische und logistische Unterstützung bei neuen Geldforderungen auf dem Landtag und ihrer Eintreibung. Dem Wunsch der Bürgereliten nach sozialem Aufstieg kam Johann entgegen, indem er einigen von ihnen, insbesondere dem Welfl Frenclin Jacobi, Königsburgen überließ. In Prag übernahmen für mehr als ein Jahrzehnt die Fernhändler des Egermilieus den Rat und das Stadtgericht und sorgten durch ihre engen Bindungen zum König für den lange gewünschten Ausbau der Stadtverwaltung und der städtischen Autonomie. Andererseits erhielten sie die Unterstützung des Königs und seines Nachfolgers Karl bei der Verteidigung ihrer Eigenkirchen gegen die Reform- und Zentralisierungspolitik der Kirche. Ihren Niederschlag fand das Bündnis aus Bürgern und Königtum in der relativen politischen Stabilität des Königreichs nach 1318 – trotz wortmächtiger Stimmen des Unmuts – sowie in Ansätzen einer dezidiert johann-freundlichen Chronistik, die wahrscheinlich aus den Reihen der Prager Ratsherren stammte (sogenannte Tutsch kronik von Behem lant). Letztere wurden jedoch vom neuen Herrscher Karl IV. zwecks Konstruktion seiner eigenen Legitimität systematisch überschrieben.

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